Das Thema aus „Tabu-Zone“ holen, darauf aufmerksam machen, dass auch Leistungssportlerinnen und -sportler mitunter mit psychischen Herausforderungen zu kämpfen haben und dass es „okay“ ist, wenn es einem mental mal nicht so gut geht, persönliche Erfahrungen teilen, anderen Betroffenen Mut machen, sich ebenfalls zu öffnen, und anstoßen, dass sich in der Gesellschaft und speziell im Spitzensport etwas verändert. Dazu möchten diejenigen, welche als Gesichter der neuen Awareness-Kampagne für psychische Gesundheit im Leistungssport des Olympiastützpunktes (OSP) NRW/Rheinland fungieren, in besonderer Weise einen Beitrag leisten.
Denn: „Ich möchte nicht, dass es der nächsten Generation so geht wie mir“, sagt etwa Léa Krüger, eine der prominenten Botschafterinnen der Kampagne. Diese stellt unter der Überschrift „DU ZUERST“ ein Thema ins Zentrum der Diskussion, über das bislang eher selten offen gesprochen wurde: nämlich unter welchen – oftmals unsichtbaren – Belastungen Athletinnen und Athleten häufig leiden und wie wichtig es ist, nicht nur die Leistung, Erfolge und die körperliche Gesundheit im Blick zu haben, sondern gerade auch die mentale.
„Die mentale Gesundheit ist mindestens genauso wichtig wie die körperliche! Wenn man nicht fit ist, muss man eine Pause einlegen – einerlei, ob man z. B. eine Muskelverletzung oder eine Erkältung hat oder die mentale Gesundheit nicht gegeben ist“, meint Léa Krüger.
Sich einzugestehen, dass man z. B. von Depressionen, Angststörungen oder Essstörungen betroffen ist, und erst recht, dies – etwa gegenüber den Trainerinnen und Trainern oder Teamkolleginnen und -kollegen – anzusprechen, gestaltet sich jedoch für die jeweiligen Athletinnen und Athleten zumeist nicht leicht.
„Als Leistungssportlerin oder Leistungssportler ist es wichtig, Kraft und Stärke auszustrahlen und nach außen Überlegenheit zu demonstrieren – zu vermitteln, dass man ‚voll da‘ ist. Mentale Erkrankungen jedoch sind mit mentaler Schwäche verbunden – und dies wird kulturell nicht anerkannt: Als Leistungssportlerin oder Leistungssportler darfst du keine Schwäche zeigen. Das hat sich so entwickelt und wurde in der Vergangenheit immer so gelebt“, erläutert Léa Krüger.
Verständnis für Situation von großer Bedeutung
Wie die 29-Jährige weiß, schwingt bei vielen Betroffenen z. B. die Angst mit, nicht in einen bestimmten Kader aufgenommen oder aus dem Team genommen zu werden, sobald man seine mentale Erkrankung öffentlich gemacht hat. „Dazu ist die Abhängigkeit im Sportsystem noch zu groß“, so die Säbelfechterin. Hinzu komme, dass bei mentalen Erkrankungen noch schwerer prognostizierbar sei, wann die betroffene Athletin oder der betroffene Athlet wieder leistungsfähig(er) sein wird. Dies sorge bei allen Beteiligten für eine große Unsicherheit.
Unsicherheit bestehe vielfach aber auch ganz allgemein im Hinblick auf dieses Thema. Daher richtet sich die Kampagne auch nicht alleine an betroffene Sportlerinnen und Sportler, sondern auch an deren Umfeld – darunter Trainerinnen und Trainer, die Familie, Freundinnen und Freude sowie Fans. „Es braucht mehr Sensibilität und einen gesunden Umgang mit psychischen Belastungen im Sport. Nur durch Verständnis und Unterstützung von außen können wir wirklich helfen“, sagt Daniel Müller, der Leiter des Olympiastützpunktes NRW/Rheinland und federführender Initiator der Kampagne.
„Es ist super wichtig, das Betreuerpersonal an die Hand zu nehmen. Denn viele sind erst einmal hilflos, wenn sie erfahren, dass ihre Athletinnen oder Athleten von einer mentalen Erkrankung betroffen sind. Sie wissen oftmals nicht, wie sie damit umgehen sollen“, so Léa Krüger.
Dem stimmt Anna-Maria Wagner, Fahnenträgerin der deutschen Mannschaft bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris und ebenfalls ein „Gesicht“ der Kampagne „DU ZUERST“, ausnahmslos zu: „Für viele ist die mentale Gesundheit nicht greifbar. Auch für mich war dies anfangs nicht so recht greifbar – ich wusste nicht, in welche Richtung es geht. Aber dadurch, dass immer mehr Leute darüber sprechen, rückt das Thema immer mehr in den Fokus. Diesen Wandel zu beobachten, finde ich total schön. Dafür zu sensibilisieren, ist ein wichtiger Baustein in der Zukunft“, so die zweifache Olympiadritte von Tokio im Judo. Die 28-Jährige hält es ebenfalls für enorm bedeutsam, dass u. a. Trainerinnen und Trainer dahingehend geschult werden: Was könnten Warnsignale sein? Wie gehe ich damit um, wenn sich eine Athletin oder ein Athlet bei mir damit meldet? etc.
Für die Betroffenen sei es enorm wichtig, gehört und mit ihren Problemen ernst genommen zu werden. Sie habe daher zunächst nur mit Personen über ihre mentalen Belastungen gesprochen, „bei denen es sich gut anfühlte“. Gleichzeitig habe sie das Glück gehabt, dass sie bereits mit einem Sportpsychologen des OSP Rheinland/NRW zusammengearbeitet habe, als sie feststellte, dass ihre psychische Gesundheit zunehmend litt. „Mit ihm habe ich viel gesprochen, als ich gemerkt habe, dass es mir nicht so gut geht. Und durch ihn habe ich dann auch festgestellt, was für ein Potenzial die mentale Kraft haben kann – durch sie konnte ich noch ein paar Prozent an Leistung herausholen“, blickt die zweimalige Weltmeisterin zurück. Gleichzeitig sei sie dankbar dafür, dass ihr Trainer sehr offen mit ihrer Situation umging, nachdem die Thematik für ihn greifbarer geworden war, und ihr keinen Druck machte, schnellstmöglich auf die Matte zurückzukehren.
Genesung dank professioneller Hilfe
Viele Athletinnen und Athleten, die von einer mentalen Erkrankung betroffen sind, haben allerdings nicht unmittelbar einen Experten oder eine Expertin auf diesem Gebiet „an ihrer Seite“, der oder die sie auf dem Weg der Genesung unterstützen kann. Vielmehr fehlen häufig die richtigen Anlaufstellen und Hilfsangebote – bzw. sind sie den Sportlerinnen und Sportlern nicht bekannt. In dieser Hinsicht möchte die Kampagne ebenfalls Aufklärungsarbeit leisten.
Daher freut sich auch Nike Rühr „mega, Teil der Kampagne zu sein“. Gerade auch die vielen Gespräche, die sie in dem Zusammenhang geführt habe, seien für sie sehr wertvoll gewesen. Es habe relativ lange gedauert, bis sie sich zu dem Thema geäußert habe. Dann aber habe sie relativ viele positive Rückmeldungen erhalten. „Einige Mädels haben mir geschrieben, dass es ihnen guttut, von mir zu erfahren, wie es mir ergangen ist“, so die ehemalige Kapitänin der deutschen Hockeynationalmannschaft. Generell müsse man sich „unglaublich wohl fühlen, um solche Dinge anzusprechen“, meint die 27-Jährige. Schließlich müsse man sich erst einmal Schwäche eingestehen – was generell im Sport nicht so einfach sei. Hilfreich kann es daher aus ihrer Sicht für Betroffene sein, sich zunächst mit Kontaktpersonen außerhalb des Sports darüber auszutauschen – „damit die Probleme nicht evtl. im sportlichen Kontext auf einen zurückgeführt werden“.
Nike Rühr machte diesbezüglich allerdings eher positive Erfahrungen: „Ich hatte das Glück, dass ich in den vergangenen drei Jahren einen Trainer hatte, der sich und den ganzen Staff stark mit dem Thema ‚mentale Gesundheit‘ konfrontiert hat. Als Mannschaft sind wir dadurch eine sehr reflektierte Gruppe geworden. Ich habe zunächst mit einer Sportpsychologin, die zu unserer Mannschaft zählte, angefangen, über meine Probleme zu reden. Später habe ich festgestellt, dass einige Mannschaftskameradinnen ähnliche Sachen erlebt haben. Mich mit ihnen über meine Probleme auszutauschen, tat mir gut, denn ich musste die Situation, in der ich mich im Sport befand, nicht schildern, sondern konnte einfach darüber reden.“
Gleichzeitig appelliert sie an alle Mädchen und Frauen – unabhängig davon, ob sie sportlich aktiv sind –, sich nicht von Schönheitsidealen, die z. B. über die sozialen Medien verbreitet werden, beeinflussen zu lassen. Viel wichtiger, als etwa bestimmte Maße zu erfüllen, sei es, ein gesundes, langes Leben zu führen.
Sowohl Nike Rühr als auch Anna-Maria Wagner und Léa Krüger sind gute Beispiele dafür, dass es mit der richtigen Unterstützung gelingen kann, zu mentaler Gesundheit zurückzufinden. Dies wünschen sie sich auch für andere Betroffene: dass sie aufgefangen werden, wenn es ihnen mental einmal nicht so gut geht, und dass sie zukünftig auf noch mehr Netzwerke und noch bessere Strukturen zurückgreifen können, um sich Hilfe zu holen. „Je mehr darüber gesprochen wird, umso mehr ist das Thema in den Köpfen“, sagt etwa Anna-Maria Wagner.
Enge Zusammenarbeit mit „MentalGestärkt“
Eine Anlaufstelle, mit welcher der OSP NRW/Rheinland eng zusammenarbeitet, ist „MentalGestärkt“. Dabei handelt es sich um eine unabhängige Netzwerkinitiative des Psychologischen Instituts der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS) in Kooperation mit der Robert-Enke-Stiftung, der Verwaltungsberufsgenossenschaft (VBG) und der Vereinigung der Vertragsfußballspieler (VDV). Die Initiative setzt zum einen auf Prävention, indem sie Athletinnen und Athleten sowie Trainerinnen und Trainer dahingehend schult, wie sie mit Belastungen gut umgehen können, und dass sie die Möglichkeit haben, sich zu melden, wenn es ihnen schlecht geht bzw. sie eine psychische Erkrankung vermuten. Außerdem vermittelt „MentalGestärkt“ angemessene Hilfe für Betroffene, die psychische Probleme haben. „Wir vernetzen die Personen dann für die Behandlung mit Partnern aus unserem Netzwerk, u. a. in den Bereichen Psychotherapie und Psychiatrie“, erläutert Marion Sulprizio, Koordinationsstelle von „MentalGestärkt“.
Dabei legt die Initiative z. B. Wert darauf, dass die Kontaktpersonen für die Betroffenen gut erreichbar sind und dass sie bestmöglich zur jeweils ausgeübten Sportart passen. „Wir vermitteln dabei üblicherweise mindestens zwei bis drei Ansprechpersonen, damit die Betroffenen eine Auswahl haben. Außerdem sollen die betroffenen Personen ja einen Therapeuten oder eine Therapeutin finden, bei dem oder der sie ein gutes Gefühl haben“, so Marion Sulprizio.
Und: Sollten Betroffene sich mit ihrem Anliegen an den OSP NRW/Rheinland gewendet haben und gegenüber „MentalGestärkt“ anonym bleiben wollen, teilt die Initiative OSP-Leiter Daniel Müller die Kontaktdaten von möglichen Ansprechpersonen mit, damit er sie an diejenigen, die sich ihm anvertraut haben, weitergeben kann. So tun die Verantwortlichen alles, damit sich möglichst viele Betroffene in Bezug auf ihre mentalen Probleme öffnen und sie Hilfe erhalten können.
Text: Dr. Claudia Pauli